Irrtümer und Legenden – Der Fall Carl Spitzweg

 

 

Über den Begriff absolvieren dürfte es wohl kaum Meinungsverschiedenheiten geben, schon gar nicht im Zusammenhang mit dem Besuch eines Gymnasiums. Das Gymnasium gilt als absolviert, wenn es ordnungsgemäß durchlaufen und vor allem erfolgreich abgeschlossen wurde, heutzutage mit dem Bestehen des Abiturs, in früheren Zeiten auch mit der bloßen Bestätigung der Schulleitung über den erfolgreichen Besuch der höchsten Gymnasialklasse.

 

In seiner Biographie des Malers Carl Spitzweg (1808-1885) behauptet der eigentlich sonst so verdienstvolle Literatur- und Kunsthistoriker sowie Biograph Hyazinth Holland (1827-1918), der selbst 1846 Absolvent des Wilhelmsgymnasiums München war: Karl S. genoß gleich den übrigen Geschwistern eine vorzügliche Erziehung, absolvirte das Gymnasium und …(1)

 

Dass sich seit 1893 niemand die Mühe machte, diese Behauptung zu überprüfen, verwundert etwas, dass sich in der Literatur zu bzw. über Carl Spitzweg auch noch phantasiereiche Ergänzungen wie das vermeintliche Absolviajahr sowie Hinweise auf die glänzenden Schulerfolge finden lassen, kann nur als Geschichtsfälschung bezeichnet werden, da sich nichts davon belegen lässt.

 

Über Jahre hinweg fand sich in der Internetenzyklopädie Wikipedia zum Gymnasialbesuch Spitzwegs der inzwischen von mir geänderte und berichtigte  Eintrag: Die Lateinschule durchlief Carl Spitzweg mit vielen Preisen und schloss das humanistische Wilhelmsgymnasium 1825 ab.(2)

 

Dieser Eintrag wurde ungeprüft in zahlreiche Biographien und auch in unzählige Referate übernommen.

 

In den Leitschuhmatrikeln(3) findet sich kein Absolvent namens Spitzweg, ebenso wenig bei Freninger(4), der auch die Absolventen des Neuen Gymnasiums (heute Ludwigsgymnasium) erfasst, das im Schuljahr 1823/24 gegründet wurde. So steht fest, dass Carl Spitzweg keinesfalls ein Gymnasium in München absolviert hat.  

 

Als leicht zugängliche Quelle bleiben damit nur die Jahresberichte der Studienanstalt München. Bereits im frühen 18. Jahrhundert erschienen jährlich Berichte des damaligen Jesuitengymnasiums und -lyceums, in den allerdings nur die besten und mit Preisen ausgezeichneten Schüler aufgeführt waren. Diese Tradition setzte sich, wobei die Titel dieser Jahresberichte des Öfteren wechselten, auch in der Folgezeit fort. Seit 1807 werden jetzt aber alle Schüler jahrgangsweise und nach erreichtem Erfolg aufgelistet und bieten somit eine hervorragende Möglichkeit, einen schnellen Überblick über die schulischen Leistungen und die schulische Entwicklung einzelner Schüler zu gewinnen.      

 

Vor einer Auswertung dieser, Carl Spitzweg betreffenden, Jahresberichte der Schuljahre 1818/19 bis 1823/24(5) und zusätzlich dem Schuljahr 1824/25(6), sollte jedoch ein kurzer Blick auf den formalen Aufbau der Studienanstalt München geworfen werden, da heute die Klassenbezeichnungen doch etwas fremd erscheinen und wegen häufiger Umbenennungen vor und nach dem untersuchten Zeitraum leicht zur Verwirrung beitragen können:

 

Lyzeum

Zweite philosophische Klasse

Erste philosophische Klasse

42

107

Gymnasium

Obergymnasialklasse (1)

Dritte Gymnasialklasse (1)

Zweite Gymnasialklasse (1)

Erste Gymnasialklasse (1)

76

85

96

126

Progymnasium

Oberprogymnasialklasse (2)

Unterprogymnasialklasse (2)

126

148

Lateinische                                                                                                

Vorbereitung-                                                                                         

schule

 

Höhere lateinische Vorbereitungsklasse (2)

Niedere lateinische Vorbereitungsklasse (2)

 

166

179

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   (Zahlen in Klammern: Anzahl der (Parallel-)Klassen, Zahlen rechts: Schüler am Ende des Studienjahres 1823/24)

 

Erstmals erscheint Carl Spitzweg im Schuljahr 1818/19 als Schüler der niederen lateinischen Vorbereitungsklasse, Abteilung B. Er erbringt durchschnittliche Leistungen und erreicht unter 81 Schülern dieser Klasse die Platzziffer 39.  Allerdings zeichnete er sich durch Fleiß und rühmliche Fortschritte in den Nebenfächern Kalligraphie und Singkunst aus und wird dort jeweils an erster Stelle genannt. Beides waren jedoch fakultative Fächer, deren Ergebnisse, wie auch in den höheren Klassen, nicht in die Berechnung des Jahresfortgangs eingingen.

 

Im Schuljahr 1819/20 finden wir ihn in der höheren lateinischen Vorbereitungsklasse, Abteilung B. Auch hier erbringt er in den Hauptfächern nur mittelmäßige Leistungen: Platzziffer 49 von 85.  Im Fach Kalligraphie erreicht er den 2. Platz, im Fach Singkunst wird er nicht mehr erwähnt.

 

Auch in der unteren Progymnasialklasse, Abteilung B, die er im Schuljahr 1820/21(7) besucht, werden seine Leitungen nicht besser. Er findet sich am Ende des Schuljahres unter 122 Schülern nur auf Platz 68 wieder. Im fakultativen Fach Zeichenkunst werden aus seiner Klasse neun Schüler lobend erwähnt, darunter Spitzweg an achter Stelle. Auch in der Kalligraphie konnte er sich wieder auszeichnen und wird an dritter Stelle genannt.

 

Ob es seine mäßigen Erfolge in den Hauptfächern waren oder andere Gründe vorlagen, lässt sich weder sagen noch belegen, Fakt ist, dass er die untere Progymnasialklasse im folgenden Schuljahr 1821/22 wiederholte und jetzt, wiederum in der Abteilung B, sehr gute Leistungen erbrachte, unter 136 Schülern den 7. Platz belegte und dafür mit einem der damals üblichen Buchpreise ausgezeichnet wurde. Wiederum konnte er sich auch in der Kalligraphie auszeichnen und wird in seinem Kurs an erster Stelle genannt.

 

1822/23 konnte Spitzweg in der oberen Progymnasialklasse B seine sehr guten Leistungen fortsetzen und belegte im Jahresfortgang wiederum den 7. Platz, diesmal unter 79 Schülern. Er wurde wiederum mit einem Buchpreis ausgezeichnet. Seine Leistungen in der Kalligraphie werden als vorzüglich gerühmt, sein Eifer und sein Fortschritt in der Zeichenkunst bringen ihn an die 5. Stelle von 19 aus den beiden Parallelklassen im Jahresbericht erwähnten Schülern.

 

Dieser eigentlich so erfreuliche Erfolg im Schuljahr 1822/23 barg aber auch das Ende seiner Schullaufbahn an der Studienanstalt München in sich. Er erlaubte ihm zwar, die unterste Gymnasialklasse zu überspringen und im darauffolgenden Schuljahr 1823/24 die zweite Gymnasialklasse(8) zu besuchen, seine Leistungen sanken aber stark ab und er belegte unter 98 Schülern nur den 42. Platz.  Fakultativ nahm er, Kalligraphie wurde am Gymnasium nicht mehr angeboten, am unteren Kurs in Französisch teil und findet dort auch eine rühmliche Erwähnung, allerdings an letzter Stelle der Genannten. Auch in der Zeichenkunst (Landschaftszeichnung) konnte er sich wieder auszeichnen, die Preise errangen aber andere Schüler.

 

Seine für ihn bzw. seinen als sehr streng und ehrgeizig beschriebenen Vater als zu gering erbrachten Leistungen in dieser zweiten Gymnasialklasse führten zum Austritt aus der Studien-Anstalt. Im Jahresbericht 1824/25 findet er sich nicht mehr.

 

Ein Wechsel an ein anderes bayerisches Gymnasium ist nicht belegt und erscheint auch unwahrscheinlich, da Spitzweg 1825 eine Apothekerlehre beginnt. Die oben erwähnte Aussage Hollands ist demnach frei erfunden, Spitzweg fehlten zur Absolvia 3 Gymnasialjahre, da ab dem Schuljahr 1824/25 die gymnasiale Schulzeit auf fünf statt wie bisher vier Schuljahre erhöht wurde.

 

 


 

(1) Holland, H.: Carl Spitzweg, in: Allgemeine Deutsche Biographe (ADB), Bd. 35, Leipzig 1893, S. 260 

 

(2) Veralteter Eintrag in wikipedia.de zu Carl Spitzweg (siehe  dort unter Versionsgeschichte)

 

(3) Leitschuh, M.: Die Matrikeln der Oberklassen des Wilhelmsgymnasiums in München, 4 Bde., München 1970‑1976

 

(4) Freninger, F. X.: Die Matrikeln oder Verzeichnisse sämmtlicher Studierenden, welche das alte (jetzt Wilhelms-) Gymnasium, das neue (jetzt Ludwigs-) Gymnasium und das Maxgymnasium zu München in den Jahren 1808 bis 1862 absolvirt haben. München 1863

 

(5) Jahres-Bericht von der königlichen Studien-Anstalt zu München. München 1819 (und folgende)

 

(6) Verzeichniß der Studierenden an der königlichen Studien-Anstalt zu München. München 1825

 

(7) Pflichtfächer, die in den Jahresfortgang eingingen (Wochenstunden): Religion (2), Latein (6), Griechisch (5), Deutsch (3), Geschichte (2), Erdbeschreibung (1), Arithmetik (1)

 

(8) Pflichtfächer, die in den Jahresfortgang eingingen (Wochenstunden): Religion (1), Latein (6), Griechisch (5), Deutsch (2), Geschichte und Geographie (2), Mathematik (2)

 

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